Die Sucht als Krankheit akzeptieren

Erstellt von Kerstin Kempermann |

Ein Vormittag mit Gruppentherapeutin Petra Brandhorst in der Fachklinik Weser-Ems

Oldenburg, 10.4.2024 - Um 8 Uhr morgens beginnt Petra Brandhorst ihren Arbeitstag in der Fachklinik Weser-Ems. Sie arbeitet als Gruppentherapeutin in der Einrichtung und übernimmt zusätzliche Aufgaben im Aufnahmewesen. „Ich lerne sehr viel über Menschen“, sagt Brandhorst, und die Begeisterung für ihren Beruf steht ihr ins Gesicht geschrieben.

Der erste Termin des Tages ist die Teambesprechung. Vorher bleibt kurz Zeit für einen Blick in die Mails und in den Kalender. In der Teambesprechung tauscht sie sich mit den Kolleginnen und Kollegen über die Behandlungsprozesse der Patientinnen und Patienten aus und gemeinsam stimmen sie das weitere Vorgehen ab. Anschließend geht es für Brandhorst zur ersten Gruppentherapie des Tages.

10 Patientinnen und Patienten sitzen im Gruppenraum bereits in einem Stuhlkreis. Männer und Frauen in allen Altersklassen mit ganz unterschiedlichen Lebensläufen und Persönlichkeiten, aber alle mit einer Gemeinsamkeit – sie sind suchtkrank. Brandhorst beginnt die anderthalb Stunden lange Gruppentherapie mit einem Vorstellungsritual, da ein neu aufgenommener Patient an der Gruppe teilnimmt. Jeder stellt seinen linken Sitznachbarn mit dessen Eigenschaften vor. Dabei darf die vorgestellte Person zunächst nur zuhören und erst später selbst dazu Stellung nehmen. Die Vorstellungsrunde ist der Start für ein vertrauensvolles Gespräch in der Gruppe.

In den richtigen Momenten bringt Brandhorst durch Nachfragen immer mehr Tiefe in das Gespräch, so dass sich die meisten Patientinnen und Patienten im Verlauf der Gruppentherapie immer weiter öffnen. Ein großes Thema ist der Umgang mit der Abhängigkeitserkrankung gegenüber anderen. Kommuniziere ich die Suchterkrankung gegenüber Freunden und Familie oder dem Arbeitgeber? Welche Vor- und Nachteile bringt das mit sich? Dies sind Fragen, die suchtkranke Personen umtreiben. Sie haben unterschiedliche Erfahrungen gemacht, wie andere auf eine offene Kommunikation reagieren. Immer wieder erleben sie: Zum Teil fehlt es an gesellschaftlicher Akzeptanz und dem Verständnis der Sucht als Krankheit.

Und wie sieht es in der eigenen Wahrnehmung aus? Brandhorst wirft wieder eine Frage in den Raum: „Wie stehe ich dazu, dass ich eine Suchtdiagnose habe?“ In den Antworten wird deutlich: Menschen mit Abhängigkeitserkrankung geben sich oft selbst die Schuld und schämen sich. Einige aus der Therapiegruppe fühlen sich auf einem guten Weg, die Sucht als Krankheit zu akzeptieren.

Auch die Herausforderungen im Alltag werden angesprochen. „Im Freundeskreis fehlt manchmal das Zugehörigkeitsgefühl, wenn ich keinen Alkohol trinke“, berichtet ein Patient. Eine weitere Person erzählt, dass die „After-Work-Kultur“ beim letzten Arbeitgeber eine Herausforderung darstellte. Die Gruppenmitglieder sind sich einig: „Anerkennung erlangst du durch deine Persönlichkeit, nicht durch Suchtmittelkonsum.“

„Ich war schon einmal 26 Jahre lang trocken. Dein Umfeld stellt sich auf dich ein, wenn du offen damit umgehst“, berichtet ein Patient von seinen Erfahrungen. Gleichzeitig möchte niemand von seinen Freunden Schuldgefühle vermittelt bekommen. Deshalb sei es wichtig, darüber zu sprechen, wie beispielsweise mit Alkohol bei Treffen und Feiern umgegangen wird.

Brandhorst gibt mit viel Gespür für die Teilnehmenden immer wieder Hinweise und stellt gezielt Nachfragen. Sie merkt den Patientinnen und Patienten an, womit sie gerade hadern, und hilft ihnen weiterzukommen.

Die Gruppe kommt im Laufe des Vormittags ein zweites Mal zur Rückfallprophylaxe zusammen. „Rückfälle sind eher die Regel als die Ausnahme“, sagt Brandhorst. Ein Mensch mit Abhängigkeitserkrankung sei durch die Therapie nicht geheilt, sondern muss sich darauf einstellen, dass auch bei Abstinenzmotivation das sogenannte Suchtgedächtnis eine Rolle spielt. Deshalb stellt sie der Gruppe das Warnlampenmodell vor. Dieses soll dabei helfen, sich zu regulieren, um keinen Rückfall zu erleiden. „Wenn du mit dem Auto auf eine Baustelle zukommst, bremst du ab“, sagt Brandhorst. Die Patientinnen und Patienten sollen lernen einzuschätzen, wann eine Rückfallgefahr besteht und sie „abbremsen“ müssen. Hierzu sollen sie sich bewusst machen, welche Aktivitäten helfen, um die Rückfallgefahr zu mildern.

„Für den Job ist Empathie und Distanzierungsfähigkeit zugleich notwendig“, erklärt Brandhorst. Sie schafft es, beides in Balance zu halten. Die Faszination für die Menschen treibt sie an, und sie lernt jeden Tag dazu. Brandhorst ist 65 Jahre alt und freut sich heute über das große Wissen und die vielen Erfahrungen, die sie in ihrer beruflichen Laufbahn sammeln konnte. Sie kann aus einem immer weiterwachsenden Erfahrungsschatz schöpfen und diesen ihren Patientinnen und Patienten zur Verfügung stellen. den Menschen dadurch helfen. Da die Begeisterung für ihren Beruf nicht nachlässt, bleibt sie der Fachklinik Weser-Ems auch nach ihrem Renteneintritt im Mai mit einer Teilzeitstelle erhalten.

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